Mittwoch, Juni 11, 2008

Eine kleine Träne

Eine kleine Träne meinte er in ihren Augen gesehen zu haben. Aber er war sich nicht sicher. Vielleicht war das auch nur das trügerische Spiel des Lichts gewesen. Sie hätte eigentlich weinen müssen. Das hätte alles so viel erträglicher gemacht. Wenn sie geweint hätte. Oder ihn einfach mal richtig angeschrien hätte. "Was bist Du nur für ein erbärmlicher Feigling? Du mieser Lügner, Du hast mich benutzt und betrogen! Verpiss Dich, verdammt noch mal, sofort aus meiner Wohnung und komm mir nie wieder in die Quere! Du gehörst doch...", naja.. was Männer eben so gehörten.
Wenn es nach ihm gegangen wäre - und nach allen Regeln der Natur - hätte sie ihn geschlagen. Einmal kräftig ins Gesicht, dass man den Abdruck ihrer Hand und des Rings noch Stunden später sehen konnte. Wenn es nach den Regeln der normalen Frauen ging - was er sogar mal akzeptiert hätte - hätte sie ihr Knie in seinen Weichteilen versenkt. (Sie hatte mal Fußball gespielt und hatte einen ganz schönen Kick drauf. Ihm tat schon alles weh, wenn er nur daran dachte.) Nach einer langen Standpauke, die natürlich sämtliche Nachbarn - ach was, die ganze Stadt! - unterhalten hätte - sie hätte ihm alles an den Kopf geworfen; jeden noch so kleinen Fehler, den er in den letzten drei Jahren begangen hatte; alles, was doch eigentlich gar nicht so schlimm gewesen und schon längst vergessen war - hätte sie ihm den Ring vor die Füße geschmissen, den Schlüssel eingefordert und ihn rausgeschmissen.
Wenn er durch das Treppenhaus auf die Straße kam, wären dort schon seine ganzen Sachen gelegen, die er noch bei ihr hatte. Manches zerbrochen oder zerfetzt, auf jeden Fall unbrauchbar gemacht.
Doch nichts davon war geschehen.
Er war zu ihr gegangen und hatte ihr gesagt, dass er eine andere hatte - und mit dieser anderen ein Kind. Dass es ihm leid tue, hatte er gesagt, und dass sie das eigentlich nicht verdiene.
Aber sie hatte nicht geschrien und nicht geweint und nicht rausgeschmissen.
In seiner Tasche fühlte er den Schlüssel. Die Tränen brannten in seinen Augen. Er wusste, was er verlassen hatte. Sie aber hatte nur gesagt: "Dein Wunsch hat sich erfüllt. Geh zu Deiner kleinen Familie. Lebe mit ihr und genieße diese Zeit. Das ist das, was Du Dir immer gewünscht hast. Behalte den Schlüssel, dann kannst Du immer hierher kommen. Ich hoffe, wir bleiben Freunde. Du weißt, dass ich Dich liebe und ich weiß, dass Du mich liebst. Aber Liebe hat viele Gesichter und viele Erscheinungsformen. Unsere Liebe ist eben anders. Du weißt, wo Du mich findest, wenn Du mich brauchst. Ich liebe Dich!"
Eine kleine Träne meinte er in ihren Augen gesehen zu haben. Aber es war kein Schmerz, es war die Freude, dass sich seine Wünsche erfüllt hatten.