Mittwoch, Dezember 29, 2004

Verzeihen - II

Er war 49 Jahre alt, als ich ihn kennenlernte, aber das wusste ich nicht einmal. Oder ich hatte nicht darauf geachtet. Die Bewerbungsunterlagen hatte ich nur flüchtig in wenigen Minuten vor dem Vorstellungsgespräch durchgelesen und es war nichts hängengeblieben. Ich kam gerade aus der Schule, war genervt, hatte familiäre Sorgen und wollte nach Hause. Zu diesem Zeitpunkt war ich 18 Jahre alt, hatte einen festen Freundeskreis und begann gerade mein Leben zu genießen, weil mir jemand diesen Weg wies.
Er kam rein und setzte sich und ich war gar nicht angetan von ihm. Auf mich wirkte er ungepflegt, verraucht und unsympathisch. Dennoch hörte ich so neutral wie möglich zu, was er auf die gestellten Fragen antwortete und beobachtete ihn.
Später ist mir dann erst aufgefallen, dass er perfekter nicht hätte antworten können. Alles schien wie einstudiert und er sagte genau das, was wir hören wollten. Ein Kirchenvorstand. Unbedarft, lauter ehrenamtliche Laien (mit Ausnahme der beiden anwesenden Pfarrer), die fraßen, was er uns vorsetzte.
Auch seine Frau schien nett zu sein und diese perfekte Ehe, seit 25 Jahren schon und sie liebte ihn noch immer! Das war doch irgendwie genau das, was wir brauchten.
Als er ging blieben wir geblendet zurück und die ersten zaghaften Zweifel wurden tobend zurückgewiesen. Nein, dieser sympathische Mann war mit Sicherheit kein (trockener) Alkoholiker. Er war einfach eine Frohnatur, wie er ja auch selber erklärt hatte und warum sollte ein Mensch nicht so sein?

Einstimmig lag der Beschluss vor: Einstellen.
Ich gebe ehrlich zu, ich habe versagt in diesem Moment und in dieser Abstimmung. Ich habe nicht nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, sondern habe mich einfach der Mehrheit angeschlossen.

Er trat also im November seinen Dienst bei uns an, als Hausmeister und Mesner und erledigte seine Aufgaben zu unserer Zufriedenheit. Ich war gebeten worden, ihm anfangs ein wenig zu helfen, ihn einzuweisen und die Unklarheiten zu beseitigen. Das tat ich, denn zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich seit 5 Jahren ehrenamtlich in dieseer Gemeinde und kannte mich aus.
Er schien dankbar für die freundliche weibliche Hilfe und nutze sie aus.
Schnell duzten wir uns, schnell hielt man uns für ein gutes Team, das seine Arbeit erledigte.
Er hatte einen komischen Humor, der immer etwas unschwellig und pervers war und so waren auch seine Witze. Der ewig gleiche Spruch, egal um was es dabei ging: "Von hinten kostet Hundesteuer!". Perverse Witze und zahlreiche offene und wenn andere Leute anwesend waren, versteckte Anzüglichkeiten. Es war widerlich. Bereits nach einem Monat wusste ich nicht mehr, ob es so richtig war, dass ich damals für Ja gestimmt hatte. Ich fühlte mich unwohl in seiner Nähe und seine Umarmungen widerten mich an. Ich bat ihn, es sein zu sein lassen, weil ich das nicht möchte, aber er machte weiter.
An Weihnachten war natürlich viel Hilfe nötig. Viele Besucher, viel zu tun, wenig Helfer, wenig Zeit zwischen den Gottesdiensten. Wie die Jahre zuvor half ich auch diesmal und blieb noch bis zu Beginn des dritten Gottesdienstes. Aber da war es auch. Wir standen in der Sakristei, die letzten Stühle waren eingesammelt und der Gottesdienst würde in wenigen Minuten beginnen. Die Türe war geschlossen und wir waren alleine. Er presste mich an den Schrank. "Frohe Weihnachten!". Ich drehte mich weg. "Hör auf, bitte. Lass das!" Er küsste mich direkt auf den Mund und ich konnte seine Zunge an meinen Lippen spüren. Seine Hände berührten mich.
Ich stand starr da, stumm, hatte ein seltsamen Angstgefühl.
Die Türklinge wurde hinuntergedrückt. Er ließ von mir ab, stand vor mir und faselte: "Dann sind wir fertig. Kannst gehen!" Der Pfarrer kam herein, suchte seine Sachen zusammen. Er hatte nichts bemerkt.
Ich nahm meine Sachen und ging. Verängstigt und verwirrt. Was war das? Was war geschehen?

Man hat mir nichts angemerkt. Ich konnte mich gut verstellen. Ich wollte nicht, dass jemand etwas merkt. Wenn nicht einmal ich verstand, was geschehen war und warum, wie sollte ich dann darüber sprechen?

Ich bat zwei Freunde, einer davon mein bester Freund, am Silvesterabend mit in die Kirche zu kommen und ihn sich anzusehen. Wir hatten abgemacht, dass wir uns nicht kennen würden. Da ich alle Gottesdienstbesucher begrüße und solch junge Männer selten in die Kirche kommen, sprach ich mit ihnen. Es schien gut zu gehen.
Doch er ahnte wohl etwas, denn er ließ sie nicht aus den Augen und sprach mich immer wieder auf die beiden jungen Männer an.
Nach dem Gottesdienst war die einhellige Meinung: "Nimm Dich vor ihm in acht, er ist komisch, vielleicht sogar gefährlich!" Das wollte ich tun. Ich hatte auch ihnen nicht die ganze Wahrheit über den Weihnachtsabend erzählt.