Donnerstag, März 26, 2009

Sprachlos

Sie konnte nicht darüber sprechen. Das war vor dem Augenblick an klar, als sie es bemerkt hatte. Darüber zu sprechen mit der besten Freundin oder der Familie, dem Ehemann oder den eigenen Eltern, das war unmöglich. Es würde wahrscheinlich Vorwürfe hageln. Warum sie denn nichts gesagt hatte. Warum sie nicht beim Arzt gewesen war. Warum sie nicht alles versucht hatte, um es zu verhindern. Warum sie ihren Ehemann anlügen würde. Sie würde sich für etwas rechtfertigen müssen, für das sie sich weder rechtfertigen wollte noch konnte. Schließlich hatte sie es nicht gewusst und wie sollte man denn über etwas reden oder etwas erzählen, wenn man es nicht weiß? Wie soll man zu einem Arzt gehen und um Hilfe bitten – hätte sie um Hilfe gebeten? Wohl nicht, es wäre keine Hilfe notwendig gewesen -, wenn einem nicht einmal bewusst ist, dass man einen Arzt braucht?
Es würde sich herumsprechen. Ihr Mann, Julian, würde es natürlich seinen Eltern erzählen. Die würden beim nächsten Besuch – wenn Schwiegermutter Rita nicht schon vorher verlangte, sie zu sprechen – über nichts anderes reden. Das heißt, nein, zuerst würde sie ihre Schwiegertochter, die sowieso zu nichts zu gebrauchen war, eine schlechte Köchin, eine miserable Hausfrau und dann war sie bis jetzt nicht einmal Mutter, was sie noch sehr viel mehr aufregte, als alles andere, ignorieren. Rita beträte die gemeinsame Wohnung, stolzierte an der verhassten Schwiegertochter vorbei und bemutterte ihren erwachsenen Sohn. Kein Gruß, kein Hallo, kein gar nichts. Das gemeinsame Kaffeetrinken würde schrecklich werden. Belanglose Gespräch über Personen, die sie nicht kannte oder kennen wollte, normale Themen, bei denen sie nicht mitreden durfte, weil die Schwiegereltern sie als dumme Gans abgestempelt hatten, sagte sie dann doch etwas, würden alle sie anstarren und dann darüber hinweggehen. Bei einer unpassenden Gelegenheit, wenn Rita sicher sein konnte, die voller Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu bekommen, würde sie verbal losschießen. Ein Redeschwall aus Vorwürfen und Beleidigungen, die allesamt tief verletzen würden. Ihr Mann würde nichts sagen und ihr Sohn auch nicht – die Schwiegertochter hatte sowieso irgendwann erkannt, dass sie ihr nicht gewachsen war.
„Petra!“ Es war eine Mischung aus Befehlston und tiefem Hass, der mit diesem Namen mitschwang. Die Angesprochene war nichts anders von ihrer Schwiegermutter gewöhnt.
„Petra, was hast du dir denn dabei gedacht? Meinst du, ich lasse zu, wie du meinen Sohn unglücklich machst? Ich kann gar nicht verstehen, was er an dir gefunden hat. Er muss blind gewesen, als er dir einen Antrag gemacht hat, aber nun ja. Für dich ist es ja eine gute Partie. Aber dass du ihm jetzt eine Schwangerschaft verheimlichst, das ist ja wirklich unfassbar!“ Ihre Stimme wäre bedrohlich ruhig und würde gegen Ende der Rede anschwellen zu einem wütenden Ausbruch. „Wie hast du es denn geschafft, dass dein Körper das Kind abstößt? Hast du gesoffen? Geraucht? Die Pille danach, nur um Julian seinen Kinderwunsch nicht zu erfüllen? Oder kennst du irgendwelche Hausmittel von deiner Großmutter, die nachgeholfen haben?“ Petra würde schweigen. Es gab nichts zu sagen und nichts hätte ihre Schwiegermutter gelten lassen.
Was hätte ihr Mann gesagt, wenn er die Wahrheit erfahren hätte? Natürlich hätte am allermeisten seine Mutter dazu gesagt. Dafür hatte Julian sie schließlich und er konnte sich gegen sie nicht durchsetzen und hätte sich nie gegen sie aufgelehnt, ihr auch nur einmal widersprochen oder sich auf die Seite seiner Frau gestellt. Julian hätte geschwiegen und wäre wahrscheinlich genauso stumm vom Sofa aufgestanden und in die Küche oder ins Schlafzimmer gegangen. Hauptsache weg von Petra, die nicht mal das hin bekam. Er musste sich selbst eingestehen, dass die Wohnung sauber war, auch wenn seine Mutter etwas anderes behauptete, das Essen war durchaus lecker, wenngleich es schon vorgekommen war, dass etwas leicht angebrannt gewesen war. Aber das passierte jedem mal, daran machte er die Qualitäten einer guten Ehefrau nicht fest. Die Kinderlosigkeit jedoch war ein Problem für ihn. Drei hatte er haben wollen, schon immer. Drei Kinder, Junge – Mädchen – Junge, am besten in dieser Reihenfolge. Das dritte Kind hätte auch ein zweites Mädchen sein können, vielleicht war das sogar besser. Aber mittlerweile waren Petra und er über fünf Jahre verheiratet und keine Kinder in Sicht. Obwohl er seinen ehelichen Pflichten genügend nachkam und sich vor drei Monaten sogar hatte untersuchen lassen, aus Angst, es läge an ihm. Es lag nicht an ihm, aber er konnte Petra nicht sagen, sie solle sich untersuchen lassen. Außerdem ging sie regelmäßig zu ihrem Gynäkologen, da wäre es doch mal aufgefallen, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, oder?
Aber all diese Gedanken kannte Petra nicht, denn beide hatten schon lange verlernt, solche Dinge miteinander zu besprechen und lebten eher nebeneinander als miteinander.
Wenn er es also erfahren würde, würde er die räumliche Trennung suchen, die nächste Nacht nicht an ihrer Seite verbringen und wahrscheinlich bitter enttäuscht die Scheidung einreichen. Das Projekt Ehe und Familie mit Petra wäre somit für ihn wohl gescheitert.
Was hätte ihre beste Freundin gesagt? Selbst Mutter von drei Kindern, glücklich, am Überlegen, ob es nicht noch ein viertes Kind geben sollte. Natürlich hätte sie ein bisschen mehr Verständnis gehabt, als Julians Familie, aber sie hätte trotzdem dazu geraten, zum Arzt zu gehen, sich untersuchen zu lassen und: „Vielleicht solltest du mal deine innere Einstellung überdenken. Es ist doch nicht normal, dass du nicht schwanger wirst und jetzt auch noch das Kind verlierst. Du willst eigentlich gar keins, stimmt’s? Deswegen klappt es auch nicht, weil du dich dagegen innerlich sperrst. Ist Julian vielleicht nicht der Richtige für dich?“ Natürlich war Julian der Richtige, aber es klappte nun mal nicht mit der Schwangerschaft. Das konnte doch vorkommen, oder? Es war keine Hilfe zu erwarten. Von keiner Seite.
Selbst Petras Eltern würden keinen wirklich Rat wissen und hilflos zu trösten versuchen. Aber es würde nicht tröstlich sein.
Es gab keine Trost und es gab nicht die richtigen Worte. Petra hatte es alleine durchgestanden. Die Veränderung des Körpers hatte sie kaum mitbekommen, aber es war so ein Gefühl gewesen, so ein unbestimmtes. Einige Tage hatte die daran gedacht, einen Schwangerschaftstest zu machen und wenn der positiv gewesen wäre, hätte sie einen Termin beim Gynäkologen vereinbart. Doch da waren die Schmerzen kommen. Bittere Schmerzen im Unterleib, dumpf und drohend, stoßweise, wieder abklingend. Da hatte sie es gewusst. Etwas Kleines war in ihr. Hatte sich dort gebildet und einnisten wollen, aber der Körper hatte nein gesagt und stieß den ungebetenen Gast ab. Beim Aufwachen spürte sie schon das Blut zwischen ihren Beinen und traute sich kaum, die Bettdecke zurückzuschlagen. Das Laken war voller Blut. Sie duschte, versuchte, die Blutung in den Griff zu bekommen und machte das, was sie jeden Tag tat. Die Blutung war stark, sie musste öfter Binden und Tampons wechseln als in den Tagen ihrer Menstruation, aber es war egal. Petra spürte die Schmerzen, das Blut, das still aus ihr herausfloss, das Stückchen Leben, dass da starb. In ihr war alles leer und taub, nur der Schmerz zeigte ihr, dass sie lebte. Keine Tränen, keine Flüche, keine Gespräche. Nur Schweigen, das sich ausbreitete. In ihr und in der Wohnung und noch mehr zwischen ihr und Julian. Und das kleine Etwas, das an all dem etwas hätte ändern, das die Freude wieder in sie hätte bringen können, lag tot und unkenntlich in mehreren Klumpen Blut.
Darüber kann man nicht sprechen.