Donnerstag, März 26, 2009

Frühlingserwachen

Sie konnte seine Hände noch auf ihrer Haut spüren. Jede einzelne Berührung auf ihrem Körper, wie er sie gestreichelt hatte, den Hals, die Brüste – ein paar Mal hatte er die Brustwarzen umkreist, bis sie hart geworden waren – dann weiter über den Bauch, bis er endlich an seinem Ziel gewesen war. Seine Hand zwischen ihren Beinen, in sie eindringend. „Hab Spaß!“, hatte er sie aufgefordert, ihre Beine mit beiden Händen auseinandergedrückt und war in sie eingedrungen. Schnell und hart. Über ihr hatte er sich bewegt und ihre Arme festgehalten. Es war seine Show gewesen. „Komm, du willst es doch auch! Also stöhn’ ein bisschen. Nun mach schon!“ Als sie immer noch beinahe regungslos unter ihm gelegen hatte, war er brutal geworden, hatte ihr in das tränennasse Gesicht geschlagen und sich erst recht genommen, was er wollte. Er war über sie gekommen, wie ein apokalyptischer Reiter über die Welt und hatte erst nach langen Momenten der Schändung und des Schmerzes von ihr abgelassen. Nicht einmal mehr weinen konnte sie. Wie versteinert lag sie da, lange noch, nachdem er endlich gegangen war.
Danach war die Zeit des Schweigens gekommen. Schweigen, weinen, fliehen. Mit wem hätte sie denn darüber sprechen können und wer hätte ihr geglaubt, nachdem sie wochenlang von ihm geschwärmt hatte? So sympathisch und interessiert, wie er gewesen war, als sie sich kennen gelernt hatten, so überaus attraktiv und charmant. Niemand würde ihr glauben, wenn sie ihn jetzt als brutalen Vergewaltiger anprangerte. Also schwieg sie, zog sich zurück, weinte, trank und plante, sich das Leben zu nehmen. Dieses graue, triste Leben. Welchen Sinn hatte das alles noch? Als ihre Regel ausblieb, kaufte sie vier Wochen später einen Schwangerschaftstest, vorher hatte sie sich nicht dazu aufraffen können. Er war positiv. Da wuchs also etwas in ihr. Von ihm. Er hatte seinen Samen auf fruchtbares Land gegeben, wie biblisch, wie gut katholisch! Der kleine Teufel in ihr war aber kein Beweis für die Vergewaltigung, kein Zeuge, kein Nichts. Nur eine stete, erdrückende, dunkle Erinnerung an die Zeit ihrer Qual. Sie fragte nicht einmal mehr: „Und jetzt?“, sie dachte nicht über Schwangerschaftsberatung und Abtreibung nach; sie betrank sich. Wein, Bier, Wodka. Immer wieder übergab sie sich – und trank weiter. Nach einigen Tagen befand die Natur sie als nicht würdig, Leben in sich zu tragen und regelte die Angelegenheit. Sie starrte einfach nur auf das Blut und griff erneut zur Flasche. Das Kind war ihr ohnehin egal gewesen. Sie wollte nur sterben. Irgendwo waren sicherlich noch Tabletten, Schlafmittel, Beruhigungsmittel, egal. Was sie fand, nahm sie, dazu eine Flasche Wodka, und ließ sich auf das Sofa fallen.
Auf dem Bildschirm ihres Laptops blinkte ein kleiner Brief. Irgend jemand hatte sie auf einer Singleseite angeschrieben. Vor langer Zeit hatte sie sich aus Spaß angemeldet – und dort in den letzten Wochen einen ausgeprägten Männerhass ausgelebt, die zurückerhaltenen Beleidigungen vom anderen Geschlecht hatten sie sehr amüsiert. Diese miesen Schwanzträger hatten doch sowieso keine Ahnung von gar nichts!
Der Absender nannte sich Frühlingserwachen. Wie peinlich! Was für ein Pseudonym für einen Mann! Sie nahm den ersten langen Schluck Wodka aus der Flasche, die ihre letzte werden sollte und klickte die Nachricht an.
Hallo Fallen Angel, ich habe Dein Profil gelesen. Da steckt sicherlich mehr dahinter. Wenn Du mal reden möchtest oder Hilfe brauchst, kannst Du Dich gerne bei mir melden. Auch telefonisch. Schöne Grüße, Jan
Es folgte eine Telefonnummer. Er wohnte nicht weit entfernt. Sie lachte kurz auf. Was ein Vollidiot! Den wollte sie dann doch noch fertig machen, bevor sie ihr Leben beendete.
Hallo Jan! Hast Du mit der Masche überhaupt schon mal Glück gehabt? Ich kann auf schleimige Typen verzichten, die einen auf verständnisvoll machen. Du willst doch eh nur das eine, dann sag es doch auch direkt.
Sollte er sich doch ins Knie ficken! Sie trank wieder einen Schluck und sah die Medikamentenpackungen durch. Viele Tabletten hatte sie nicht. Es waren kleine Packungsgrößen gewesen, die sie zum Teil aufgebraucht hatte, als der Arzt ihr diese verordnet hatte. Fluchend drückte sie die Tabletten aus den Aluminiumverpackungen und sammelte sie auf dem Tisch. Der Alkohol tat längst seine Wirkung und sie musste mehrfach zum Zählen ansetzen. Es waren fünfundzwanzig Tabletten. Ob das ausreichend war?
So hasserfüllt? Nein, es ist keine Masche, nur eine ehrliche Frage. Dein Profil ist besorgniserregend und da wollte ich nachgefragt und meine Hilfe angeboten haben. Dir geht es wohl schlecht und Du vertrittst schon seit einiger Zeit eine krasse Einstellung in Deinem Profil. Wie ich vermute, steckt da erheblich mehr dahinter, als eine enttäuschte Liebe. Wenn Du also reden möchtest, kannst Du Dich gerne melden. Ich werde Dir helfen, so gut ich kann. Aber nur so als Hinweis, auf weitere Anfeindungen kann ich verzichten.
Dieses blöde Arschloch! Was fiel dem überhaupt ein? Erst schrieb er sie an und dann wollte er ihr auch noch Vorschriften machen, wie sie mit ihm zu reden hatte!
Dann saß sie einen Augenblick lang stumm und reglos da und überlegte, wie ernst sein Angebot zu nehmen war. Sie lachte abfällig und wollte mal sehen, wie ernst er es meinte.
Helfen? Was könntest Du schon tun? Es ist sowieso zu spät und vorbei. Vor mir liegen Tabletten und es ist Alkohol da. Das wird mein Tag!
Sie ließ sich zurückfallen und schloss für einen Moment die Augen. ‚Das wird mein Tag!’, hatte sie geschrieben. Ein Tag in diesem beschissenen Leben sollte ihr gehören und heute war es soweit. Ihr Todestag! Er würde in der Zeitung stehen. Vielleicht reichte es für eine kleine Meldung in der Lokalzeitung – das wären ihre 15 Minuten Ruhm gewesen – und die Todesanzeige natürlich. Aber was würden ihre Angehörigen wohl schreiben? Sicherlich nichts, was darauf schließen ließ, wie sie aus dem Leben gegangen war. Mit einem gehörigen Wodkarausch und fünfundzwanzig Tabletten – die hoffentlich ausreichend waren.
Wenn Du Dich heute sowieso umbringen willst, kannst Du doch auch noch mit mir sprechen, oder? Du hast doch nichts mehr zu verlieren und so weiß wenigstens jemand, warum Du das tust. Wahrscheinlich hast Du keinen Abschiedsbrief geschrieben, oder? Wenn Du magst, kann ich auch vorbeikommen, damit das Gespräch Auge in Auge stattfinden kann.
Kluger Bursche, das musste man ihm ja lassen. Ein Abschiedsbrief existierte tatsächlich nicht. Warum auch? Keiner würde ihr Glauben schenken. Beweise gab es auch keine mehr. Die Bettwäsche hatte sie sofort danach abgezogen und in die Waschmaschine gestopft – wo sie nach dem Waschen immer noch lag und vor sich hin moderte. Was machte es, wenn er vorbei kam? Dann würde er sehen, wie es ihr ging. Was wäre, wenn er sie auch nur ficken wollte? Es war egal. Sie war zu betrunken, um sich daran zu stören und die Tabletten lagen bereit. Was machten in dieser Situation noch weitere Schmerzen aus? Das Ende war nah und konnte jederzeit herbeigeführt werden.
Mir ist sowieso alles egal. Kannst auch gerne herkommen und mich ficken. Ich wehre mich auch nicht.
Sie nannte ihre Adresse und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der Wodkaflasche. Die Tabletten starrten und lachten sie an, aber noch war es zu früh. Erst wollte sie noch wissen, wer oder was dieser Jan war.
Wie gesagt, ich komme gerne vorbei. Was dann passiert, werden wir sehen. Aber mir geht es eigentlich in erster Linie um Dich.
Er wollte sichergehen und sie nicht bedrängen. Na, sollte er doch, es war egal.
Ja, klar, komm.
Sie spielte mit den Tabletten neben dem Laptop und legte ein Smiley-Gesicht mit einem extrabreiten Grinsen. Die Wodkaflasche stand noch zu dreiviertel voll daneben. Es war nicht das erste, was sie an diesem Tag getrunken hatte und ihre Glieder waren bleiern. Sie döste ein.
Ein nerviger Ton weckte sie. Er war schrill, laut und störend. Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass es die Türklingel war. Mühsam kämpfte sie sich hoch und machte einige Schritte Richtung Wohnungstüre. Sie stolperte über irgend etwas und fiel hin. Darüber musste sie lachen. Die Türklingel schrillte weiter, jemand klopfte an die Tür und rief ihren Namen. „Marlies? Marlies, mach die Tür auf!“ Ja, ja, nur keine Hetze.
Sie rappelte sich auf, alles drehte sich um sie, deshalb kroch sie auf allen Vieren durch die Wohnung zur Tür und drückte die Klinke. Die Tür schwang auf. Im Treppenhaus stand ein junger Mann um die Dreißig, groß, gemütlich mollig, blonde Haare. Er schob die Tür weiter auf und kniete neben ihr nieder.
„Marlies?“ Seine Stimme war sanft und ruhig. Er tätschelte ihre Wange.
„Marlies? Was ist los? Hast du die Tabletten genommen?“ Mit glasigem Blick sah sie ihn an.
„Nein. Wer bist’n du?“ Er schloss die Tür und nannte seinen Namen. Dann nahm er sie hoch und trug sie durch die Wohnung. Das Schlafzimmer war verwüstet, genauso wie der Rest. Jan legte die junge, schlafende Frau auf ihr Sofa und deckte sie zu.
„Schlaf ein bisschen…“, doch das bekam Marlies schon nicht mehr mit.
Jan ging durch die einzelnen Räume. In der Küche stapelten sich Geschirr und leere Pizzaschachteln, der Mülleimer quoll über und es roch übel. Das Schlafzimmer schien verwüstet und seit Wochen nicht betreten worden zu sein. Das Bettzeug lag verstreut im Zimmer, die Matratze lehnte an der Wand, Klamotten waren überall verteilt. Im Badezimmer roch es modrig, das Waschbecken war dreckig, der Geruch von Erbrochenem hing in der Luft. Das Wohnzimmer bot keinen besseren Anblick. Überall lagen leere Flaschen und Essensreste in diversen Stadien der Verwesung. Wie hatte sie hier leben können und was hatte sie überhaupt dazu gebracht, alles soweit verwahrlosen zu lassen?
Jan öffnete in jedem Raum die Fenster, deckte Marlies mit einer weiteren Decke zu und suchte Müllsäcke, um ein wenig Ordnung zu schaffen. Er fand die Tabletten auf dem Tisch und fegte sie in den Abfall. Dann suchte er den Wohnungsschlüssel und brachte den Müll raus, sammelte die Pfandflaschen zusammen und ging einkaufen. Marlies würde etwas zu essen brauchen, wenn sie aufwachte. Als er zurück war, richtete Jan das Schlafzimmer soweit her, dass Marlies zumindest wieder im Bett schlafen konnte, was erheblich bequemer sein würde, als das Sofa. Dann spülte er ab und putzte das Bad. Marlies würde sicherlich noch länger schlafen.

Marlies erwachte mit starken Kopfschmerzen und fand sich erst gar nicht zurecht. Wo war sie? Die Gardinen hielten zum Glück das grelle Licht zurück und es war angenehm still. Vorsichtig setzte sie sich auf und sah sich um. Es war ihr Schlafzimmer, das erkannte sie nun. Was tat sie hier? Wie war sie hierher gekommen? Warum lag sie in ihrem Bett? In diesem unseligen Bett? Warum war das Schlafzimmer ordentlicher als in ihrer letzten Erinnerung? Sie wollte aufstehen und schlug die Decke zurück, aber alles drehte sich und sie ließ sich stöhnend zurücksinken. Es klopfte leise an die Tür und Marlies erschrak. Die Tür schwang auf und sie hörte eine Bewegung, leises Klirren. Jan betrat mit einem Tablett in den Händen das Zimmer.
„Hallo Marlies“, er bemühte sich, leise zu sprechen und dabei das Tablett möglichst geräuschlos auf ihrem Nachttisch abzusetzen.
„Wer bist du und was machst du hier?“ Sie erkannte ihn nicht und konnte sich an nichts mehr erinnern.
„Ich bin Jan. Wir haben uns per Mail kennen gelernt. Du hast lange geschlafen und ich habe in der Zeit ein bisschen aufgeräumt. Du brauchst Ruhe, aber vorher solltest du etwas essen und vor allem was trinken. Das wird jetzt nötig sein.“ Er hielt ihr ein Glas mit einer sprudelnden milchigen Flüssigkeit hin.
„Was ist das?“ Marlies war skeptisch.
„Nur etwas gegen deine Kopfschmerzen.“ Er lächelte und sie trank zögernd. Langsam kam die Erinnerung zurück und mit ihr die unendliche Traurigkeit und Leere.
„Was hat das hier alles noch für einen Sinn? Ich wollte sterben, warum hast du mich nicht einfach sterben lassen?“ Es klang vorwurfsvoll und war genauso gemeint. Jan ließ sich nicht beirren:
„Schon mal was von unterlassener Hilfeleistung gehört? Ich kann dich doch nicht einfach sterben lassen. Denk doch mal an meine Gefühle, wie wird es mir danach wohl gehen?“, er grinste breit und man konnte ein schelmisches Funkeln in seinen Augen sehen, „jetzt habe ich mir so viel Mühe gegeben, jetzt musst du mir aber auch ein bisschen Zeit gönnen.“ Er strich ihr sanft über die Wange. In seinen Berührungen und seiner Stimme lagen so viel Zärtlichkeit und trotzdem antworte sie erst mal: „Ich hasse dich! Du egoistisches Arschloch! Mir ist doch egal, wie es dir dabei geht. Hier geht es um mich und nicht um dich! Aber klar, jetzt appellierst Du an mein Mitgefühl, dass ich dir das ja nicht antun kann. Aber weißt du was? Das ist mir scheißegal!“
Er saß immer noch da und lächelte: „Na komm, werd’ noch ein bisschen mehr Zorn los. Was ist denn passiert?“ Sie schlug nach ihm und beschimpfte ihn. Langsam verschwand sein Lächeln und er guckte etwas kritisch.
Nachdem der erste Zorn verraucht war, kam ihr der Gedanke, dass er wahrscheinlich schon mehrere Stunden hier war, ihr nichts getan hatte, nett schien und es keinen Grund gab, ihn weiterhin anzugreifen.
„Wenn ich gehen soll, dann sag’s. Aber es würde mich unheimlich freuen, wenn du mir erzählen würdest, was passiert ist und wie ich für dich da sein kann.“ Sie blickte in diese treuen Augen und ihr war klar, von ihm ging keine Gefahr aus und er meinte es ernst. Es interessierte ihn wirklich und es schien ihm etwas zu bedeuten, ihr helfen zu können. Warum, wusste sie nicht, aber das war ihren Gefühlen egal, denn sie wurde gerade von ihnen überwältigt und Tränen schossen ihr in die Augen. Alles, was in den vergangenen Wochen in ihr vergraben worden war, brach aus ihr heraus. Die Vergewaltigung in ihrer Wohnung, ihrem Bett, in dem sie danach nicht mehr hatte schlafen wollen. Die Schmerzen und blauen Flecke, die sie davongetragen hatte und eine Zeit lang eine ständige Erinnerung gewesen waren. Wie hilflos sie sich gefühlt hatte. Die Wochen danach, geprägt von Tränen, Schmerz und Schweigen. Die Schwangerschaft, die überraschend und unpassend war. Wie grässlich ihr Verhalten gewesen war, durch das sie ihr Kind verloren hatte. Sie erzählte vom Alkohol, der ihr bester Freund geworden war und ihr scheinbar durch die dunklen Stunden half und den Schmerz betäubte. Von ihrem Hass auf Männer, der täglich stärker und unerbittlicher wurde. Die Tabletten, die ihrem tristen, grauen Leben eine Ende bereiten und ihr den sehnsüchtigen Wunsch, zu sterben, erfüllen sollten.
Jan saß einfach nur am Bett, hörte ihr zu, gab ihr hin und wieder ein Taschentuch oder wischte ihre Tränen ab. Sie richtete sich auf und ließ sich in den Arm nehmen. Die sanfte Berührung ließ sie weinen, weinen, weinen. Als keine Tränen mehr kamen und Marlies völlig erschöpft in seinen Armen lag, flüsterte er leise: „Leg dich wieder hin und schlaf’ ein bisschen. Wenn du das nächste Mal erwachst, wird die Sonne scheinen und du wirst das Leben wieder spüren.“