Sonntag, Oktober 12, 2008

Das Päckchen

Es war ein Päckchen, das vor ihr auf dem Tisch stand und sie verräterisch anglotzte. 

Ein blaues Rechteck, mit einem gelben Band, geziert von einer gelblich grünen Schleife.

Es sah eigentlich ganz nett aus, freundlich, lieb, unscheinbar und doch so geheimnisvoll, dass man es eigentlich gleich aufmachen wollte.

Weg mit Band und Schleife, weg mit dem Papier, den Tesafilm aufgeschlitzt, der den Karton verklebte und dann...

Dann sah man, was drinnen war. Was irgendwer eingepackt hatte, um dem Empfänger eine kleine Freude zu machen. Für kurze Augenblicke sein Herz zu erwärmen und ihm zu sagen: Ich denk an Dich und hab Dich lieb! Um für einen kurzen Augenblick ein leises Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Sie lachte aber nicht.

Vorsichtig strich sie über das hellblaue Papier, spielte mit Band und Schleife. Dabei dachte sie voller Liebe und Zärtlichkeit an ihr Töchterchen.

Es war nicht mal ihre leiblich Tochter, auch keine adoptierte. Sie war sogar ein Jahr jünger als ihr Töchterchen. Aber Töchterchen hatte Mutter und Schwester verloren, der Bruder hatte sich eben erst umgebracht, der Vater saß im Gefängnis und sie war seelisch kaputt. Ihre Vergangenheit, das Erlebte war so schlimm, dass sie Ritzerin war, bulemisch und stark suizidgefährdet.

Aber nein... es wäre zu einfach gewesen, wenn das alles gewesen wäre. Das wäre ein zu normales Leben gewesen. Zu trivial.

Töchterchen hatte AIDS, Töchterchen lag im Krankenhaus, ihr Töchterchen.

Eigentlich hätte sie heute umziehen müssen. Zur selbstgewählten Adoptivmutter, ein Neuanfang, ein neues Leben, ohne Angst, ohne Verfolgung und Schmerzen. Ganz ursprünglich hatten beide geplant, dass Monika auf die selbe Schule geht wie Mommy und dort ihr Abi macht. Danach eben Studium, Ausbildung, irgendwas. Doch daraus wurde dann halt nichts, weil...

Den Gedanken konnte sie nicht zu Ende bringen. Okay, zugegeben, es war die Dritte, die in diesem Jahr an AIDS erkrankt war, die Dritte in ihrem Bekanntenkreis und irgendwie war ihr auch klar, dass es die Dritte sein würde, die daran sterben würde in diesem Jahr. Trotzdem, es tat weh. Es grub sich tief in ihr Inneres, stach mit einem Dolch zu und rammte ihn in ihr Herz.

Sie schnappte nach Luft. Nicht weinen. Nur nicht weinen! Nein!

Monika hatte ihr nicht sofort gesagt, dass sie AIDS hatte. Mommy war irgendwann selber draufgekommen und hatte einfach geradeheraus gesagt: „Du hast AIDS!“  Sehr feinfühlige Methode! Perfekt! Aber es war nun mal so. Sie konnte nichts mehr erschrecken nach den letzten Monaten, die ihre so viele Tote beschert hatten.  Vielleicht war sie auch einfach abgestumpft, gefühlskalt und unnahbar geworden.  Aber nur nach außen hin, denn innerlich zerriss es sie.

Monika hatte also AIDS und somit gab es die obligatorischen 2 Jahre zu leben. Beide wussten es. Aber davon ließ sich keiner unterkriegen. Mommy plante schon wieder eine andere neue Zukunft für ihr Töchterchen. Das war damit sogar einverstanden. Es hatte ihr gefallen. Zum Einen musste sie sich keine eigenen Gedanken machen, das hätte sie fertig gemacht und wäre im Chaos geendet und zum Anderen machte Mommy gute Vorschläge. Sie sollte umziehen.. aber sie kam nie an.

Zwei Tage vor dem Umzug hatte sie einen schweren Unfall. Freunde von Monika sagten, es sei ein Mordversuch gewesen. Die Ärzte hatten sie fast aufgegeben, doch sie wachte auf. Die zweite OP fand nicht statt, dafür war Monika zu schwach. Schließlich wurde sie auf eigene Verantwortung hin aus dem Krankenhaus entlassen und wohnte bei ihrer Freundin.

Da war es wieder. Dieses Gefühl, dass ein Dolch ins Herz gestoßen würde. Sie wollte schreien, flehen, betteln. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich vor dem Tod niedergekniet und ihn um Gnade angefleht... aber das konnte sie natürlich nicht.

Sie besah das Päckchen. Vorsichtig strich sie darüber. Sie wollte es auspacken, doch unterließ sie dies. Der Anblick des Teddys hätte ihr die Schere, die vor ihr auf dem Tisch lag in die Halsschlagader gerammt.

Kleine Mo, kleiner Stern....

Sie wusste, dass ihr Töchterchen tot war, aber sie akzeptierte es nicht. Noch hatte sie keine Träne vergossen. Aus dem einfachen Grund, dass sie den Tod ihres Töchterchens negierte.

Ruckartig stand sie auf, nahm ein Feuerzeug und das Päckchen und begab sich auf den Balkon. Es war kühl, der Mond schien und die Sterne strahlten ihr entgegen.  Sie nahm das blaue Etwas in ihrer Hand und hielt es über die Flamme des Feuerzeugs. Solange, bis es lichterloh brannte, dann ließ sie es fallen und sah in den Himmel. Ein Stern strahlte besonders hell und klar und sie meinte eine Stimme hören zu können: „Ich hab Dich lieb, Flexi!“

1 Comments:

Blogger Sir Torbald said...

Und wieder eine tolle Story.
Ich weiß, dass du deine Geschichten normalerweise nicht nochmal durchliest, und trotzdem sind sie nahezu perfekt.
Ein paar Punkte, über die ich gestolpert bin (liegt aber daran, dass ich Perfektionist bin ;-), also nicht so ernst nehmen):
"Sie war sogar ein Jahr jünger als ihr Töchterchen." - Da wäre "Tochter" besser gewesen, da sie hier von ihrer leiblichen Tochter spricht.
Mit dem Mordversuch war wohl ein Selbstmordversuch gemeint.
Und dass Flexi = Mommy ist, hat auch etwas gedauert (naja, hab manchmal eine lange Leitung ;-))

11:27 PM  

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