Sonntag, Oktober 12, 2008

Eine Konkurrenz

Ab und zu tat ich das ganz gerne. Ganz früh morgens aufstehen, weil ich sowieso nicht mehr schlafen konnte, und losgehen. Unbekannt der Weg, den ich gehen würde. Wohin mich meine Füße tragen würden, da würde ich hingehen. Nebel lag noch über dem See und der Himmel war leicht bedeckt. Noch kämpfte sich die Sonne selbst aus dem Bett und versuchte sich gegen die Wolken zu behaupten, die sie umgaben und zurückzuhalten suchten. Ich hingegen musste nur gegen meinen eigenen Unwillen und die Faulheit ankämpfen. Ich gewann. Manchmal aber auch nicht. Dann ging ich los, irgendwohin.

An einem Morgen führte mich mein Weg durch den noch ruhigen und schlafenden Ort hinauf zu höher gelegenen Wegen und Wiesen, bis an den Rand des Waldes. Hier war ein Friedhof angelegt worden, in ruhiger, abgeschiedener Lage, Ruhe für die toten Körper, die entschlafenen Seelen und die unruhigen Gemüter, die noch eine Aufgabe gehabt hätten.

Das Tor quietscht leise. Habe ich jemanden geweckt? Oder kann man diese Schlafenden nicht stören in ihrem festen friedlichen Ruhen? „Guten Morgen!“, sage ich leise und beginne dem Weg zwischen den Reihen zu folgen. Grabsteine und Kreuze wechseln sich ab, Blumen und Büsche wachsen unbekümmert nach Maß und Schönheit angepflanzt, dazwischen ein Stück Wiese, ein Grab, unbepflanzt, verwuchert. Da gibt es vielleicht gar keine Angehörigen mehr, die sich darum kümmern können oder die Tote ist in Vergessenheit geraten. Nach dem Leben hat man sich einfach nicht mehr an sie erinnert. Vielleicht war es ein leeres, trostloses Leben, voller Arbeit, Schmerzen, Tränen und bitter verdientem Brot. Daneben wacht ein stolzer Stein über ein mit Blumen überhäuftes Grab. Hier macht  sich jemand sehr viel Mühe, gibt wohl viel Geld für die Blumen aus und für die Grabpflege. Vielleicht war die Frau nebenan mal bei dem großen Grabstein angestellt gewesen. Hatte geschuftet und sich für wenig Geld viel gefallen lassen müssen. Da durfte sie nicht mit den Herrschaften an einem Tisch sitzen, da durfte sie nicht ihr Recht vertreten. Nur arbeiten. Jetzt lagen sie hier nebeneinander. Für immer. Das schmale Holzkreuz und der große, grobe Stein. Ob sie sich vertrugen? Oder ob der Stein dem Kreuz immer noch alles befahl und es immer noch knechtete? Diesmal für Gottes Lohn, für nichts. Nicht mal für einen Platz im Himmel, das war vorbei. Diesmal ging es nur darum, dass das Kreuz neben dem Stein stehen durfte und mal die Pracht der Schönheit und den vielen Besuch bewundern durfte. Selbst hier an diesem Ort, wo doch eigentlich alle gleich waren, wo es nicht mehr drauf ankam, wer besser, schöner, reicher war, selbst hier herrschte noch immer dieser bittere Konkurrenzkampf. Wer hatte mehr?

Gedankenverloren gehe ich weiter und bleibe an einem kleinen Urnengrab stehen. „LISA MARIE – AUGUST 2002“ steht auf einem weißen Holzkreuz. Dahinter ist ein kleines Bäumchen gepflanzt. Auf dem Grab einige Blumen, ein Teddybär, ein kleiner Steinengel. Sie war wohl noch ein Kind gewesen, vielleicht ein Totgeborenes, das die Eltern voller Schmerz und Liebe begraben mussten.  Was hat dieser Mensch vom Leben gehabt? Nichts. Vielleicht ein paar wenige Stunden, die qualvoll waren für Eltern und Kind, vielleicht nicht einmal die. Es gibt keinen Konkurrenzkampf mit der Kleinen. Sie liegt hier außer Konkurrenz, muss sich nichts erkämpfen oder erarbeiten, sie kann es einfach nicht. Ob sie sich hier besser oder schlechter zurechtfindet, als die anderen?

Die Sonne schien, die Stadt war aufgewacht, als ich zurückging. Leben. Alles war wie immer, ein Wettlauf ohne Ziel ...

1 Comments:

Blogger Sir Torbald said...

Auch wenn man meinen sollte, dass die düsteren Geschichten besser zu dir passen. Geschichten wie diese versprühen noch etwas anderes, etwas Nachdenkliches, etwas Vergangenes, aber auch das Erwarten von etwas Neuem ... Hoffnung!

11:37 PM  

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