Sonntag, Oktober 12, 2008

Für den Rest unseres Lebens

Vor mir auf dem Tisch lagen noch die cremefarbenen Rosen und die Geschenke. Da lagen noch Karten mit Glückwünschen und Erinnerungen an den schönsten Tag des Lebens. Da waren die Erinnerungen gebannt an das traumhafte Kleid in der Farbe der Unschuld und den langen, weiten Schleier. Eine wunderbar ausfallende Schleppe. So etwas habe ich mir immer gewünscht.

Wie nervös ich doch gewesen war, wie aufgeregt und übermütig. Alle halbe Stunde musste ich auf die Toilette und die Haare waren widerspenstig und das Make-up war nicht perfekt und sollte es doch sein. Meine Trauzeugin stand neben mir und weitere Freundinnen werkelten um mich und an mir rum. Es sollte perfekt werden. Das war der Tag, von dem ich schon als kleines Mädchen in den schillerndsten Farben geträumt hatte. Er war da, endlich, endlich, lang ersehnt. An meiner Seite würde der perfekte Mann stehen, der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, den ich nie verlassen und nie verlieren wollte. Wir würden glücklich werden, so hoffte ich und so meinten unsere Freunde. Das Vorzeigepaar, die Liebe in Person.

Dann war er da, der Moment, der große wichtige Augenblick. Wir saßen vor dem Standesbeamten, feierlich, freudig erregt und mir war schlecht. Er brachte seinen Standarttext und ich hörte gar nicht genau hin, obwohl er mich interessierte. Plötzlich kamen Zweifel auf und ich wusste nicht mehr, ob ich diesen Mann wirklich heiraten wollte. Ehe, das heißt ein Leben lang diesen einen Mann zu lieben und mit diesem einen Mann zusammen zu sein. Ein Leben lang. Das konnte lang sein, wir waren jung!

Doch als ich meinen Blick zu ihm wandte und ihn in seinem dunklen Anzug sah, wie er verkrampft versuchte den Worten des Standesbeamten zu folgen, da wusste ich wieder, dass ich genau das wollte und das Leben sollte noch so endlos lange sein, denn so endlos lange wollte ich mit diesem Mann zusammen sein, ihn lieben, von ihm geliebt werden und gemeinsam durch jeden Tag unseres Lebens gehen.

Das Ja kam so erleichtert, so überzeugt, so geliebt und schneller, als ich dachte, war ich verheiratet und die Frau dieses tollen Mannes. Nur noch die kirchliche Trauung gleich im Anschluss und wir waren vereint für immer und nichts konnte uns mehr trennen. Ich war so glücklich, schwebte auf Wolken, wollte die ganze Welt umarmen.

Vor dem Standesamt küsste er mich, lange, intensiv, liebend.

„Ich liebe Dich!“, flüsterte ich ihm zu und sah ihm tief in die wundervollen dunklen Augen, die mich immer schon fasziniert und gefesselt hatten. Sie hatten gestrahlt wie eine Sternennacht, als ich seine Frage vor vier Monaten mit Ja beantwortete. Natürlich wollte ich ihn heiraten und den Rest unseres Lebens mit ihm verbringen. Er hatte geweint vor Freude, als ich ihm vor zwei Wochen sagte, dass ich schwanger bin. Wie viel ihm das bedeutet hatte, wie groß die Freude war, wie er strahlte seitdem. Das perfekte Glück. Nichts hatte mehr gefehlt und an diesem Tag wurde das Glück abgerundet und vollendet durch ein einfaches Wort: Ja.

„Auf zur Kirche!“, wurde gerufen. Wir folgten, wir liefen, wir waren glücklich. Noch fuhren wir getrennt, nach der Kirche würden wir in einem Auto fahren, nebeneinander, verheiratet, verliebt, vergeben.

Meine Trauzeugin fuhr mich. Wir lachten, wir redeten, wir alberten rum. Dann waren wir endlich an der Kirche, es konnte für mich nicht schnell genug gehen. Einige Freunde und Verwandte saßen bereits in der Kirche, andere warteten vor der Kirche auf uns, filmten, machten Fotos, begrüßten mich. Wo denn mein Ehemann bleiben würde,  fragten sie.

„Der kommt gleich!“, antwortete ich und wies auf den Wagen, der gerade in die Straße einbog. Freudig sah ich ihm entgegen. Die Straße war gerade und in der Mitte eine kleine Kreuzung. Meine Trauzeugin rückte noch ein letztes Mal den Schleier zurecht, sah mich prüfend an.

„Es ist perfekt!“, sagte sie lachend. Es sollte auch perfekt sein, das hatte ich mir immer gewünscht und jetzt war es das. Perfekt, strahlend, glänzend, glücklich.

Ich sah den Lastwagen nicht, ich hörte ihn auch nicht, das Glück hatte meine Aufmerksamkeit getrübt. Als ich ihn sah, war es zu spät, ich hätte aber auch früher nicht eingreifen können. Er fuhr einfach in die Kreuzung ein, direkt in das Auto, in dem mein Liebster saß, direkt in seine Seite, direkt in ihn. Ich hörte die Schreie, ich hörte meine Schreie. Die Hand ließ den Brautstrauß los und er fiel auf den harten Boden, der die Blüten zerstörte. Meine Beine setzten sich in Bewegung, liefen los, wollten zu meinem Herz, ich verhedderte mich in dem weiten Rock und fiel beinahe hin, fing den Sturz gerade noch ab und raffte den Rock mit den Händen zusammen. Nichts um mich herum nahm ich wahr, nichts hörte ich. Nur die Schreie. Es mussten seine gewesen sein, vielleicht aber doch meine? Irgendjemand überholte mich, war schneller am Auto als ich, war schneller bei ihm, sah in den Wagen. Hände hielten mich zurück, zerrten an mir, man stellte sich mir in den Weg. Stimmen, viele Stimmen drangen in mich ein, wortlose Töne, ich krallte mich an einen Arm, wollte ihn wegschlagen, wollte freigelassen werden. Zu ihm wollte ich, mehr nicht. Mein Liebster saß doch da. Ein befreundeter Arzt krabbelte in den Wagen und ich schrie ihm irgendwas zu. Wieso durfte er und nicht ich? Ich war doch die Ehefrau!

Der Lkw setzte ein Stück zurück. Jetzt war der Weg frei zu ihm! Nur Blech behinderte den Weg ein wenig. Dennoch ließen sie mich nicht los. Nein, sie führten mich sogar weg! Sie nahmen mich und führten mich weg von meiner Liebe, von meinem Leben, von meinem Glück.

„So lasst mich doch! Lasst mich doch zu meinem Mann!“ Aber sie ließen mich nicht und ich konnte nur ab und zu einen ängstlichen Blick des Autos erhaschen. Jemand hatte mich in den Arm genommen, hielt mich fest, sperrte mich ein, nahm mir mein Glück. Jemand strich mir über den Rücken, wie Schläge fühlte es sich an. Wie laut doch die Sirenen waren, wie quietschend grell die Bremsen.

Es war so viel Zeit vergangen, so viel Ungewissheit, so viel Leid. Es war so schnell das Glück vergangen, das an diesem Tage mit uns ging. Da kam ein weißes Männchen, ein Fratz.

„Er ist tot!“, mehr habe ich nicht behalten von seinen Worten. Endlich sprang ich auf, endlich konnte ich mich befreien aus den Fängen dieser Räuber. Ich lief, lief zu diesem grauen Stein am Boden. Ich lief dorthin, wo ich mein Glück vermutete. Man wollte mich zurückreißen, doch ich riss mich los, ich schrie, ich biss, ich wehrte mich, riss das Tuch weg – Blut.

Dort lag mein Glück, meine Liebe, stumm und noch warm, dort war das sündige Blut und befleckte ihn. Ich strich über seinen Kopf, seine Wangen, ich küsste ihn, ich weinte, ich vermischte Blut mit Wasser, ich sprach zu ihm, ich bettelte, er müsse zurückkommen, bei mir sein! Die Unschuld wurde umgekehrt, das Weiß des Kleides rot. Er kam aber nicht zurück zu mir, trotz bitten und betteln nicht. Er war einfach gegangen. Das Blut hatte ihn fortgeschwemmt, die Sünde hatte ihn gefangen. Das Glück stand an der Straßenecke, es lachte. Es lachte uns aus! Es war gegangen.

„Aber ich liebe Dich doch!“ Doch das war kein Grund. Auch der Kuss nicht. Es gab keinen Grund für ihn zurückzukommen. Es gab für ihn nichts mehr hier.

 

Vor mir auf dem Tisch lagen noch die cremefarbenen Rosen und die Geschenke. Da lagen noch Karten mit Glückwünschen und Erinnerungen an den schönsten Tag des Lebens. Da waren die Erinnerungen gebannt an das traumhafte Kleid in der Farbe der Unschuld und den langen, weiten Schleier. Eine wunderbar ausfallende Schleppe. So etwas habe ich mir immer gewünscht.

Das Kleid war nicht mehr weiß, es war gesprenkelt mit rotbraunen Flecken. Die Erinnerung tat weh. Der schönste Tag war zum Albtraum geworden. Die Ehe war nichts wert gewesen. In mir wuchs etwas von ihm und er würde es nie sehen. Er würde sein Kind niemals im Arm halten und das Kind würde seinen Vater niemals kennen dürfen.

Das Glück hatte uns verlassen. Es war nun mal nichts perfekt. Perfektion führt immer nur zu Zerstörung.

Wir wollten zusammenbleiben und uns lieben – bis an unser Lebensende. Wir wollten den Rest unseres Lebens miteinander verbringen. Wer konnte ahnen, dass der Rest so kurz war, wer konnte ahnen, dass das Leben am selben Tag beginnt und endet?

 

1 Comments:

Blogger Sir Torbald said...

Ich hab Gänsehaut...
Eine traurig-schöne Geschichte.

12:38 AM  

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