Donnerstag, August 07, 2008

Heath

Die schweren blauen Vorhänge waren noch zugezogen und ließen keinen Lichtstrahl ins Zimmer dringen. Es roch nach kaltem, abgestandenen Zigarettenrauch. Ein leichter beißender Geruch nach Erbrochenem zog durch das Zimmer und vermischte sich mit dem scharfen Geruch von Alkohol. Frische Luft wäre dringend nötig gewesen, aber die Fenster waren fest verschlossen.
Jemand grunzte leise und etwas raschelte. Eine Bettdecke, das Reiben der nackten Haut auf dem Laken, als er sich umdrehte. Er merkte es gar nicht, war gefangen in einem schweren, dunklen Schlaf.
Die digitale Uhr zeigte 10:54 Uhr an und war der einzige Lichtschein, der rot in das Zimmer fiel. Auf dem Nachtisch lag sein Handy, es war auf lautlos geschaltet und hatte irgendwann zwischen nachts und frühem Morgen vehement vibriert. Aber er war davon nicht aufgewacht, denn sein Schlaf war zu tief, zu unerbittlich gewesen.
Daneben lagen seine Schlüssel, ein Zettel, der verknittert und mehrfach zusammengefaltet worden war. Die Nachtischschublade war halb geöffnet und ermöglichte einen Einblick in dunkle Welten.
Kleingeld, Taschentücher, drei Feuerzeuge, Zigaretten, Kondome und Batterien lagen in der Schublade wild durcheinander. Dazwischen ein Messer und Streichhölzer, ein Pflaster und Kaugummi. Auf kleinen Zettelchen, abgerissenen Ecken von Servietten oder einer Zeitung, auf Stofffetzen und Taschentüchern waren Namen und Telefonnummer gekritzelt. Ob sie jemals benutzt worden waren?
Dazwischen lagen Tabletten. Verschiedene Formen und Farben hatten sie und auch verschiedene Wirkungen. Aber sie wurden gebraucht, waren nicht umsonst von einem Arzt verschrieben worden, der sein Handwerk verstand.
Auf dem Boden lagen wild verstreut diverse Kleidungsstücke, um das Bett herum standen und lagen leere Bierflaschen, eine halbleere Flasche Schnaps und ein Flasche Wasser, die unberührt schien.
Die Kommode gegenüber des Bettes enthielt sorgfältig zusammengelegte Unterwäsche und Socken. Darauf stand eine hochmoderne Stereoanlage. An der Wand hing ein großer Flachbildschirm, die Fernbedienungen zu all den Geräten und dem DVD-Player lagen irgendwo im Bett und auf dem Boden.
Zwei große Regale boten Büchern, CDs, DVD, Erinnerungsfotos, Manuskripten und Alben einen schmeichelhaften Platz und ließ sie griffbereit erscheinen.
Drei Türen führten aus dem Raum. Eine stand halb offen und offenbarte einen aufgeräumten begehbaren Kleiderschrank. Die andere führte in ein blankgeputzes Badezimmer und die dritte Türe öffnete den Weg in das Haus.
Der junge Mann im Bett lag immer noch schlafend nackt unter der Decke. Die blonden Haare, die er sich gerade wachsen ließ, fielen ihm ins Gesicht. Er atmete schwer, als säße eine schwere Last auf seinem Brustkorb.
Diese Last war schwerer, als man vielleicht annehmen wollte. Und doch war sie so unaussprechlich, so unansehbar. So fremd, so verschwiegen. Der vergangene Abend war mit vielen Zigaretten geteert worden und Alkohol hatte den jungen Mann den Weg entlang gespült. Der Heimweg war verschwunden. Ausgelöscht aus der Erinnerung, genauso wie die Mädchen mit den drei Telefonnummern, die er bekommen hatte oder die Zahl der Drinks. Wer hatte überhaupt bezahlt? Wichtiger mochte die Frage sein, wer ihn überhaupt ausgezogen und ins Bett gebracht hatte. Aber darauf hatte er keine Antwort und würde auch nie eine bekommen.
Ein leises Grunzen ging vom Bett aus. Irgendwo wurde die Haustüre geöffnet und eine Frau mittleren Alters betrat das Haus. Es war die Haushälterin. Ein bisschen putzen, ein bisschen Wäsche machen. Kochen, wenn der Herr des Hauses da war. Er war da. Das wusste sie. Die letzte Nacht schien endlos gewesen zu sein, denn der Wagen stand nicht an seinem gewohnten Platz. Dafür waren die schweren, dunklen Vorhänge zugezogen. Erst gegen 14:00 Uhr würde sie ihn sanft zu wecken versuchen, sollte er bis dahin nicht aufgewacht sein. Bis dahin hätte sie die Küche aufgeräumt - warum Junggesellen immer ein derartiges Chaos hinterlassen mussten - und sich um die Wäsche gekümmert.

Um 11:33 Uhr wachte der nackte Fleischberg auf. Was hatte ihn geweckt? Ein Geräusch? Die innere Uhr? Unruhe, die sich in ihm breitgemacht hatte? Es war egal. Er war wach. Ihm war elend. Beißende Kopfschmerzen zermarterten seinen Schädel und vernichteten jeden Gedanken, der auch nur ansatzweise gedacht werden wollte. Hinzu kam die Überlkeit, die Rebellion des Magens, die lauter und stärker wurde. Es brodelte in ihm.
"Aufstehen!", aber die Muskeln gehorchten nur ganz langsam und waren schwer und träge. Mühsam setzte er sich auf und stellte beide Beine auf den Boden. Er blieb auf dem Bett sitzen. War er auf einem Schiff in Seenot oder warum drehte sich alles so verdammt schnell?
Benommen riss er die Schublade auf und kramte darin herum. Er hielt inne und grabschte nach einer der Flaschen auf dem Boden. Aspirin würde helfen. Aspirin und ein paar Schlucke Wasser. Dann noch zwei Stunden schlafen und er wäre wieder fit. Auch hätte sich der verdammte Magen beruhigt.
Der Schraubverschluss der halbleeren Flasche ließ sich schwer öffnen. Mehrere Anläufe wurden gebraucht, bis die Flasche endlich geöffnet war und durstig zwei Schlucke genommen wurden. Es schmeckte bitter. Das musste vom Restalkohol kommen und weil ihm immer noch so verdammt übel war.
Scheiße, wo waren die verfluchten Tabletten? Weiß... nein, das war falsch. Blau mussten sie sein und nicht rund, sondern länglich... Wo waren diese Dinger nur?
Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Eine Tablette, ein Schluck. Noch ein Schluck. Er rülpste laut. Für seine Kopfschmerzen war eine Aspirin zu wenig. Nach zwei weiteren Tabletten trank er die Flasche aus. Ihm war immer noch schlecht. Ein sanfter Schwindel schlug sich dazu. Die Glieder schienen noch schwerer zu werden und er so entsetzlich müde. Der Seegang war wohl noch schlimmer geworden. Alles drehte sich schnell und schneller. Die Augen fielen ihm zu. Die Muskeln verkrampften sich. Fast bekam er keine Luft mehr. Er unternahm nicht einmal mehr den Versuch tief einzuatmen. Stattdessen sackte er zur Seite und rutschte bewusstlos vom Bett auf den Boden.


14:06 Uhr. Die Haushälterin stieg langsam die Treppe in das obere Stockwerk. Der Hausherr war wohl nicht wach geworden. Was musste das für eine durchzechte Nacht gewesen sein? Sicherlich wieder mit diversen Frauen, viel Alkohol und einem ordentlichen Filmriss. Der Kaffee stand bereit. Schwarz und stark. Sie klopfte leise an, rief seinen Namen. Nichts rührte sich. Sie klopfte noch einmal, dieses Mal lauter und rief erneut. Wieder keine Reaktion. Das war das deutliche Zeichen, dass die Nacht lang und hochprozentig gewesen war. Vorsichtig öffnete sie die Türe und hielt den Atem an, als ihr der Gestank von abgestandener Luft und Erbrochenem entgegen schlug. Nach dem Lichtschalter tastend, rief sie ihn. Keine Antwort. Das Licht flammte auf und ein greller Schrei ertönte.

Bereits in den Abendnachrichten erfuhr man über den viel zu frühen Tod des jungen Schauspielers. Man ging von Suizid aus. Schwere Schlaftabletten waren zusammen mit beruhigendem Alkohol eingenommen worden und hatten ihn von dieser Welt genommen. Niemand würde je erfahren, dass er einfach nur zu betrunken gewesen war, um die Wasserflasche von der Wodkaflasche zu unterscheiden und die rettenden, weißen, runden Aspirin von den beruhigenden, blauen, ovalen Schlaftabletten.